Text / Der Schein der Klarheit

Martin Prinz

Malerei hat sich in ihrer Geschichte immer auch mit den Bedingungen von Wahrnehmung auseinandergesetzt. Dies gilt für gegenständliche Malerei genauso wie für die vielen verschiedenen Formen ungegenständlicher Malerei. Im Unterschied zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit visueller Wahrnehmung wird in der künstlerischen Auseinandersetzung sehr schnell klar, dass diese Problematik niemals statisch oder außerhalb der Zeit und eines spezifischen Kontexts gesehen werden kann. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde ungegenständliche Malerei im Großen und Ganzen als ein Verlassen gegenständlicher Darstellungsformen gesehen, also als Abstraktion, die ihren (zumindest ideologischen) Ausgangspunkt immer in einer mimetischen Darstellung hat. Verschiedene Teilaspekte des Bildes treten in den Hintergrund, während andere betont werden. Die so entstehende Konzentration suggeriert eine Klarheit, beim Betrachten kann man sich auf bestimmte Einzelaspekte wie etwa Farbe, Fläche, Umriss oder Geste konzentrieren. In der Wahrnehmung ist aber immer ein Moment der Wiederauffindbarkeit entscheidend: Die unter Insidern oft verpönte Attitüde, immer etwas im Bild erkennen zu wollen und sei dieses Bild noch so abstrakt, weist genau und immer wieder auf diesen mimetischen Ausgangspunkt hin. In diesem Denken wird natürlich auch das Konzept des ’nicht-repräsentationellen‘ Bildes ein unerfüllbarer Wunsch, da wir selbst beim Betrachten eines monochromen Bildes oder einer unbehandelten Leinwand in uns den Prozess des Wiederauffindens in Gang setzen und so im Grunde genommen immer Repräsentation mit projizieren können. Unser kulturelles Wissen über Bilder und ihre Geschichte macht dies immer möglich. Die Wahrnehmungsforschung spricht hier von höheren Prozessen, was einfach meint, dass wir Dinge, die wir wissen, also in irgendeiner Form gespeichert haben, beim Betrachten heranziehen. Hier stellt sich aber ein ganz grundsätzliches logisches Problem: Obwohl unbestritten ist, das wir in unserer Wahrnehmung auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen, Dinge unter schlechten Bedingungen, nur aufgrund von Ausschnitten und aus fast jeder Perspektive erkennen, so kann das doch nicht alles sein und es muss ein Sehen ohne Erfahrung und ohne vorhandenem Wissen geben. Nicht nur das Erfahren ist von der Erfahrung beeinflusst, es muss auch ein Weg vom Erfahren zur Erfahrung führen. Wir haben schließlich auch alle einmal begonnen, die Welt zu sehen, ohne etwas über sie zu wissen und wir sind imstande, sie visuell zu strukturieren, ohne dass wir das Gesehene immer bereits wissen indem wir es erfahren haben. Es gibt also auch ein rein visuelles Wissen, das vor der Erfahrung liegt, tatsächlich abgekoppelt von jeder Bedeutung und ihrer Repräsentation. Dies ist der Bereich, in dem die Malerei von Esther Stocker stattfindet: Keine Abstraktion im Sinne eines Verlassens der Figur, sondern eine Untersuchung einer ganz autonomen ungegenständlichen Welt, vollkommen losgelöst von Fragen der Reduktion oder Vereinfachung der gegenständlichen Welt.
Die Gemälde von Esther Stocker sind meist rasterhaft aufgebaut, sie scheinen so etwas wie ein Schachbrett zu bilden, auf denen die Künstlerin ihre unterschiedlichen Spielzüge versucht. Ein erster kurzer Blick scheint zunächst alles klar zu machen: geometrische Muster, in schwarz und weiß und vielleich noch einigen Zwischentönen gehalten. Die Klarheit schwindet jedoch schnell, wenn sich die oft nur sehr minimalen Eingriffe ins Blickfeld schieben. Dann tun sich plötzlich Alternativen auf, was vorher noch klar und deutlich schien, bekommt etwas Fragiles und Flüchtiges, das Einfache wird nicht in etwas Komplexes verwandelt, wir beginnen nur ganz grundsätzlich zu zweifeln, ob es dieses Einfache überhaupt als solches gibt. Wenn ein einfaches Raster aus Rechtecken an einigen Stellen Verschiebungen aufweist, so hat dieses Raster in Stockers Bildern einen Effekt, der völlig gegen die Intuition zu laufen scheint: Es dient nicht mehr als ein fixes Netz von Orientierungspunkten, sondern es scheint geradezu zu verhindern, das wir die andere, durch die minimale Verschiebung entstandene Struktur erfassen können. Die Künstlerin scheint die vorgebliche Robustheit geometrischer Formen nur dazu zu benutzen, um die Bedingungen für die völlige Auflösung dieser Robustheit zu schaffen. Es ist keine komplexe Welt, es sind die einfachsten Strukturen, bei deren Anblick wir und auf nichts mehr verlassen können und alles in der Schwebe bleibt. Genau damit sind wir aber bei den Anfängen des Sehens angelangt, bei jenen Unterscheidungen, die wir ohne Zugriff auf Bedeutung oder auch nur auf Spuren einer Bedeutung treffen müssen. In ihren Bildern aus den neunziger Jahren hat Esther Stocker noch bestimmte Beziehungen zur Figur aufrechterhalten: Unscharfe Gesichtsausschnitte sind auch dort zu Rastern angeordnet und auch schon in diesen Bildern wird ein Unterschied zur herkömmlichen Abstraktion deutlich, da die Unschärfe und der Ausschnitt zwar noch Strategien der Reduktion des Figurativen sind, die gleichzeitige Wiederholung im Raster aber einer ganz anderen Dimension angehört, die in keinem Verhältnis mehr zur Figur steht. Wird im ersten Schritt zwar visuelle Information weggenommen, so wird in der Wiederholung Information multipliziert und damit vermehrt, aber dies geschieht nicht, um zur Figur, also den Gesichtern zurückzuführen, sondern vielmehr noch weiter weg davon. Auch hier wird schon die Bedeutung ganz bewusst ausgeklammert und unzugänglich gemacht. Es geht um die reflexartigen Aspekte von Wahrnehmung, um Dinge, gegen die wir uns nicht wehren können und die scheinbar fix in unseren Wahrnehmungsapparat eingebaut sind und an manchen Ecken und Enden unserer Ratio widersprechen. Weil sie diese reflexartige Zwanghaftigkeit haben, gegen die wir mit unserem Weltwissen nicht wirklich ankämpfen können, nennen wir sie Illusionen, was nichts anderes heißt, als dass ihre Wahrnehmung einer objektiven Realität widerspricht, auf die wir uns geeinigt haben und über die Verständnis herrscht. Daher sprechen wir von Illusionen als Missrepräsentationen, unser objektives Wissen ist nicht auf das, was wir sehen, abbildbar. Wenn man dies mit dem eingangs erwähnten Betrachten abstrakter Bilder vergleicht, könnte man auch sagen, dass in diesem Fall der Weg zurück zur Figur versperrt ist bzw. mehrere Wege in verschiedene Richtungen führen, zwischen denen wir uns nicht entscheiden können. Damit setzen sich Stocker in ihren Bildern in einem immer höheren Maße auseinander, es geht aber nicht so sehr um verschiedene Bildebenen wie eine figurative oder eine nicht-figurative, sondern tatsächlich um den Weg zwischen zwei Ebenen. Folglich verlagert die Künstlerin ihr Feld auch in die reine Form. Ludwig Wittgenstein diskutierte die Schwierigkeiten der Festlegung von Bedeutung anhand einer Zeichnung, in der wir sowohl einen Hasen als auch eine Ente sehen. In der Kunst von Esther Stocker geht es eben nicht um mehrere Begriffe oder Bedeutungen, die nicht festzumachen sind, sondern um verschiedene Ebenen, die nur durch das Sehen definiert sind, um so etwas wie bedeutungslose Ambiguität. Die Spannungen zwischen den Ebenen bleiben unaufgelöst, keine kann gewinnen und so überhaupt den Weg zu einer möglichen Bedeutung freimachen. In einem ihrer neuen Bilder laufen dünne schwarze Linien völlig ebenmäßig vertikal über die weiße Leinwand, brechen aber an manchen Stellen im Bild aus und bewegen sich kurz wie Gekrakel über die benachbarten Linien, bevor sie wieder in ihre vertikale Ordnung zurückkehren. Der Gegensatz zwischen geordneter Fläche und chaotischem hin und her bestimmt das Bild, er bleibt unauflöslich, obwohl wir beim Betrachten immer versucht sind, das Gekrakel einem Muster unterzuordnen und so in die Geometrie einzuordnen. In anderen Bildern sind es Schichten, die Stocker in einer Weise übereinander lagert, die eine Einordnung unmöglich machen: in einem Raster sind grau-weiße, wolkenartige Strukturen wie Aussichten aus Fenstern gemalt und über das Ganze werden nochmals ähnliche Strukturen mit weißem Farbspray gelegt. Auch hier oszilliert der Blick zwischen den Ebenen und kann sich nicht auf die Strukturen vor oder hinter dem Gitter festlegen. Immer wieder verblüfft der Gegensatz zwischen der Einfachheit der formalen Mittel und den komplexen Ergebnissen. Im Unterschied zur klassischen Abstraktion dient diese Einfachheit in Stockers Bildern eben nicht einer Klarheit und Ordnung, sondern im Gegenteil, einer ganz fundamentalen Unordnung uns Störung.
Auch in einer anderen Hinsicht unterscheidet sich Esther Stockers Kunst von klassischer malerischer Abstraktion. Die Leinwand ist für sie keine geschlossene, autonome Einheit. In den letzten Jahren hart sie mehrfach versucht, ihre Überlegungen darüber hinaus zu tragen und in große Wandarbeiten, Fassadenprojekte oder Raumgestaltungen überzuführen. Exemplarisch dafür steht ein Projekt, das die Künstlerin im Sommer 2004 im Bozener Projektraum Ar/Ge Kunst Galerie Museum realisiert hat. Der Titel der Arbeit, Das Wort ‚gleichartig‘ zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, und doch besagt es eigentlich gar nichts ist ein Zitat des Sprachphilosophen Gottlob Frege und deutet wieder auf das Interesse der Künstlerin für Fragen von Form und Bedeutung hin. Den auf die Straße hin offenen Ausstellungsraum hat Stocker an Wänden, Boden und Decke mit den für sie typischen Rasterstrukturen versehen, darüber hinaus wachsen noch aus allen Richtungen verschieden große Kuben in den Raum, auf denen die Rasterstruktur weitergeführt wird. Über diesen Mix von Bild und Raum, von Zwei- und Dreidimensionalität ist dann noch eine weitere Ebene gelegt, die gar nicht oder nur sehr schwer offensichtlich wird, aber doch Irritation erzeugt: Je nach Ausrichtung im Raum sind die Raster etwas verschoben, zwischen den verschiedenen Dimensionen gibt es also keine Überschneidung. Dies lässt die Einheit der Installation zum Teil auseinander fallen, allerdings stellt sich auch ein gegenteiliger Effekt ein, da die verschiedenen Flächen an den Kuben so wiederum miteinander und mit dem Raum verbunden werden. Zusätzlich verschieben sich Perspektive und Rasterausrichtung je nach Standpunkt im Raum. Das Bild wird zur installativen Skulptur, genauso wie der Raum zum Bild wird. Fragen der Wahrnehmung von Dreidimensionalität werden hier von Esther Stocker in der für sie typischen Art angesprochen: scheinbar einfache Aspekte und Einzelteile werden von ihr so zusammengeführt, dass wir plötzlich nicht mehr wissen, ob wir vor dem Bild oder im Raum sind. Orientierungslos schon bevor wir darüber nachdenken können, was eine Orientierung bedeuten könnte.

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