Text / Das Verständnis des Betrachters

Domenico Papa

In den Anfängen der modernen Malerei ist es möglich, ein genuines Interesse an der Auseinandersetzung mit den erfolgversprechendsten Wissenschaften zu finden. Eine neue Kunst war auf der Suche nach neuen, solideren Fundamenten und strebte nach einer eigenständigen Epistemologie. Auf diese Weise näherte sie sich der Physik, der Biologie und der Physiologie an. Nicht selten geschah es auch, dass einige Wissenschaftler den Versuch unternahmen, die explikative Kraft ihrer Theorien auszudehnen und einen Blick auf Bereiche zu werfen, die von ihren Arbeitsgebieten mitunter weit entfernt waren.
Das Terrain der intensivsten Auseinandersetzung schien jenes der Wahrnehmung zu sein. Dies beweisen, um auf ein bekanntes Beispiel zurückzugreifen, die Forschungsarbeiten des Postimpressionismus, die von den fortschrittlichsten Farbtheorien ihrer Zeit beeinflusst waren. In die entgegengesetzte Richtung, von der Wissenschaft zur Kunst, läuft, um ein anderes Beispiel zu machen, der wissenschaftliche Werdegang eines Physiologen wie Theodor Fechner, der sich von den Messungen der Psychophysik ausgehend auf die Erschließung einer experimentellen Ästhetik zubewegt, einer Disziplin, die – wenigstens ihren Absichten zufolge – die Sprache der Kunst jener der positiven Wissenschaften angenähert hätte. Das authentische Ergebnis bestand, abgesehen von programmatischen Erklärungen und naiven Vorstellungen über allgemeine und universelle Fundamente, darin, die Idee eines Kunstwerks als mimetisches Instrument, über welches der Künstler seinem Publikum eine angebliche Wirklichkeit vorstellte, aufzugeben. So konnte sich, nicht zuletzt dank der Verbreitung der Studien zur Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung, eine andere Konzeption behaupten, der zufolge das Kunstwerk zu einem vom Künstler erarbeiteten Dispositiv wird, über das der Betrachtende die ihm eigene Aufgabe des Sehens zu Ende führen kann. Auf diese Weise wird die Malerei zu einem Dialog, in welchem dem Betrachter keine vorab definierte Position zugeordnet wird, wie es etwa bei jener außergewöhnlichen perspektivischen Apparatur Andrea Pozzos im Gewölbe von St. Ignazio noch der Fall war. Er ist vielmehr dazu aufgefordert sich zu bewegen, das Werk zu entdecken und in ihm vermittels einer unaufhörlichen Bewegung der Annäherung und Entfernung zu agieren, welche als physische Bedingung nicht zögert existenzielle Metapher zu werden. Diese Spur wurde von zahlreichen abstrakten und geometrischen Malereien verfolgt, bis hin zur Optical Art und der kinetischen sowie programmatischen Kunst. Dieselbe Spur verfolgte auch die Gruppe T, indem sie Räume formulierte, die von einer noch stärker einbeziehenden und noch interaktiveren Komponente charakterisiert wurden, sodass zur Vervollständigung des Werk-Raums der gesamte Komplex der Wahrnehmungstätigkeit des Betrachters einbezogen wird. Dieser ist in der Tat nicht länger Fremdkörper einer im Kanon festgehaltenen Repräsentation, vielmehr wird er durch die Gesamtheit seiner Wahrnehmungsvermögen, die ihrerseits nicht länger auf eine Taxinomie der über Sinneskanäle organisierten sinnlichen Empfindung reduzierbar sind, in das Werk selbst einberufen. Das Sehen ist Bewegung und Prozess, es ist jedoch niemals von anderen Funktionen, etwa von der Raumwahrnehmung, vom Gedächtnis, der Aufmerksamkeit oder den Emotionen abzukoppeln. Wir wissen, dass die Wahrnehmung bereits eine die Erkenntnis konstruierende Handlung ist, mittels der wir unseren Horizont bestimmen: In gewisser Weise ist dies wahrnehmen und verstehen, doch es ist ebenso die Art und Weise, auf die wir den Raum, in welchen unsere Existenz miteinbezogen ist, begrenzen.
In der sehr klaren Untersuchung von Esther Stocker lassen sich einige Schlüsselstellen finden, die den Beobachter in dieser Richtung begleiten.
Bei einer ersten Lektüre taucht die tiefgehende Problematik der Definition einer Kunst auf, die nicht nur nicht-figurativ, sondern gleichzeitig auch nicht auf reine Abstraktheit zurückgeführt werden kann. Es gibt ganz offensichtlich keine Reproduktion und keine Bezugnahme auf eine andere Realität als jene der Malerei selbst, es gibt nicht einmal die Darstellung von Objekten, die aus dem engen Bereich der Malerei stammen. Esther Stocker erarbeitet also keine Bilder mit Linien, Oberflächen und Feldern. Sie fertigt vielmehr Formen, durch die schlussendlich ein Prozess sichtbar wird. Sie liefert Dispositive der Wahrnehmung und experimentiert mit dem Einsatz der Formeln der Malerei. In einigen Werken arbeitet sie mit konstanten Wiederholungen, wobei sie geringe lokale Variationen einfügt, die nach dem Gesetz der Komplexität große Veränderungen am Gesamtbild hervorrufen.
Es handelt sich um minimale Variationen von Maß, Position und Farbe. Von Mal zu Mal werden alle möglichen Sichtweisen überlegt, die in einem ständigen Evolutionsprozess der geometrischen Wiederholung, den kalkulierten Zufallsmöglichkeiten und der Austauschbarkeit der Maße anvertraut bleiben. Es handelt sich um einen Prozess, der sich nicht auf die Oberfläche der Leinwand begrenzen lässt, sondern über die Wände der Ausstellungsräume, über ein Gebäude oder ein Zimmer hinauswächst. In den Raumbildern, die mit Hilfe wechselnder rechter Winkel und chromatischer Gegensätze gestaltet werden, wird das Werk zur Umwelt, zum Ambiente, das den Beobachter zur Gänze in sich aufnimmt und zu einem Teil seiner Verwirklichung werden lässt. Er wird so in der Tat zum Träger eines Sehens, das den Raum durchschreitet, entdeckt und in dieser Bewegung umgestaltet.
Von einer Sichtweise beansprucht, die ihn nicht vom betrachteten Gegenstand entfernt, wird er gleich dem Künstler zum Akteur des Wahrnehmungsdispositivs, welchem er schließlich selbst angehört.
Paradoxer Weise wird er mehr vom Werk begriffen, als er es selbst begreift.

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